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Dienstag, 30. November 2010

Prozesstag

Nachdem ich heute mein erstes Mal an einem Prozess beteiligt war, nehme ich das als Anlass, meinen letzten Blog-Eintrag für November zu machen. Ah, und nein, nicht weil ich jetzt hinter Gitter muss...

Wie ihr euch vielleicht erinnert, ist mir am Wochenende vom 20./21.11. so einiges geklaut worden. Heute war der Prozesstag für den Kerl, den wir erwischt hatten, wie er einer Freundin in die Hosentasche gelangt hat und der mit ziemlicher Sicherheit auch mit dem Halunken zusammenarbeitet, der mir meine Kamera geklaut hat.

Erfahren habe ich von dem Prozess gestern abend - ich soll um 8.30 am Gerichtshaus sein. War ich auch, mit Sahlu, der sich mal wieder als Riesenhilfe erwiesen hat. Ich glaube, ohne äthiopische Begleitung wär ich allein schon der Sprache wegen komplett verloren gewesen. Wie dem auch sei, wir waren beide als Zeugen geladen und nachdem um 9.30 dann auch mal die Polizei angedackelt ist, konnte es im Grunde losgehen.

Der Gerichtssaal ist im Grunde ein etwas größerer Raum, wie ein Klassenzimmer, vorne sitzt der Richter, zwei Staatsanwälte, gelegentlich laufen einige Polizisten rum. Die Angeklagten, Zeugen, Angehörige sitzen bunt gemischt auf aufgereihten Holzbänken (von denen jede anders aussieht). Nacheinander werden die Fälle abgearbeitet, die Angeklagten werden nach vorne gerufen, Zeugen kommen dazu, werden dabei aufgenommen, und irgendwann verkündet der Richter sein Urteil. Die Stimmung ist trübe und nüchtern, aber nicht so düster und einschüchternd, wie ich es erwartet hatte. Es herrscht allgemein Stille, nervöses Rascheln übertönt die recht leise sprechenden Offiziellen im Raum. Trotz ständiger Ermahnung, die Handys auszuschalten, hats in einer Reihe dann doch geklingelt. Der dazugehörige Mann ist aschfahl geworden, hat aber nur einen Klaps auf den Hinterkopf bekommen.

Gegen 11.30 wurde dann unser Fall behandelt. Zwei andere Fälle habe ich mir übersetzen lassen, die will ich kurz schildern. Ein 18jähriges Mädchen war wegen Falschaussage angeklagt (sie hatte ursprünglich einen Dieb gedeckt), und wurde zu drei Monaten Gefängnishaft angeklagt.
Eine Gruppe von drei Männern wurde zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt, sie hatten 100.000 Birr (ganz grob vielleicht 4,600 Euro) von einem Mann geraubt, der gerade die Bank verlassen hatte.
Meine Zeugenaussage war dann recht kurz - vier, fünf Fragen, dann verkündete der Richter, dass der Angeklagte frei gesprochen wurde, was tatsächlich richtig war, denn um ihn ins Gefängnis zu stecken, dafür war die Beweislast einfach nicht schwer genug - schließlich gibt es nur die Aussage Sahlus.
Wie uns aber ein Polizist später erklärte, wird er weiterhin auf der Polizeistation festgehalten. Tatsächlich hat er nämlich, wohl in kleiner Runde, schon ein paar Dinge ausgequatscht - sie wissen jetzt, wer die Kamera hat und suchen weiter nach ihm. Naja, ich bin ja mal gespannt, ob ich das Ding noch mal wiedersehe.

Achja, die Schwester des Taschendiebs ist danach noch zu Sahlu und mir gekommen und hat sich entschuldigt und bedankt - warum auch immer. Ich glaube, weil ich ausgesagt habe, dass ich ihn nicht gesehen habe und das wohl entscheidend gewesen ist.

Nun, wieder ein Erfahrung mehr. Auch was, auch wenn sich meine gestrige Vermutung bestätigt hat, dass es bei dem Ganzen für mich wenig zu gewinnen gibt.

Soweit von mir, einen schönen Rutsch in den Dezember! :)

Liebe Grüße,
Armin

Montag, 29. November 2010

Advent und alte Leidenschaften

Zunächst mal wünsche ich Euch allen einen schönen Start in den Advent. Wenn ich die Bilder vom verschneiten Österreich sehe, mir dazu Christkindl-Markt vorstelle, Glühwein und Lebkuchen, dann überkommt mich doch zum ersten Mal ein kleines Stück Heimweh. Zum Glück kann ich Weihnachten im Kreis der Familie verbringen...

Weihnachtsmärkte gibt es aber überall auf der Welt, auch in Addis Abeba. Sonntag, also gestern, wurde er von der evang. Gemeinde veranstaltet, und die NGO, die meine Gastgeber gegründet haben, hatte auch einen Stand. Und was haben sie verkauft? SANDWICHES. Dass ich da mitmachen musste, liegt ja auf der Hand. Schließlich bin diesbezüglich Profi. :)

Glühwein habe ich keinen getrunken, obwohl er angeboten wurde. Aber bei kühl-sommerlichen Temperaturen geht der Reiz verloren. (Meine Gedanken schweifen gerade an meine letzte Weihnachtsfeier mit der Arbeit... Münchner Christkindlmarkt... Glühwein.... Blau wie der Enzian).
Lebkuchen habe ich aber gekauft, und Schokoweihnachtsmänner! Und Marzipankartoffeln! Komplett überteuert freilich, aber das Zeug musste ja aus Deutschland erst mal hergebracht werden. Und vielleicht schaffen wir es, hier auch ein wenig Vorweihnachtsstimmung zu schaffen - und da will ich dann doch vorbereitet sein...

Ach ja, seit einer Woche kann ich wieder klimpern. Meine Gastgeber hatten tatsächlich eine Gitarre rumstehen. Ein paar gewechselte Saiten später konnte ich dann endlich wieder etwas spielen, was mir hier doch auch sehr gefehlt hatte. Vielleicht sollte ich nun auch wieder ein Adventslieder in mein Repertoire aufnehmen... :)

Liebe Grüße,
Armin

Montag, 22. November 2010

Bitter!

Leider bin ich dieses Wochenende wieder um eine bittere Erfahrung reicher, auf die ich gerne verzichtet hätte. Denn sowohl am Samstag als auch am Sonntag bin ich beklaut worden. 26 Jahre bin ich ohne ausgekommen, dann gleich zwei Tage hintereinander....

Am Samstag morgen bin ich einer Bande auf dem Leim gegangen, die in einem typischen, öffentlich Minibus gesessen ist. Nachdem ich eingestiegen war, hat mich der Kassierer in tpyische Gespräche verwickelt, wo kommst du her, was machst du hier. Mein Notebook musste ich auf den Schoß nehmen, im Nachhinein verstehe ich warum. Neben mir hat der Komplize (eingeweiht dürfte aber der gesamte Bus sein) sich nämlich an meiner Jacke zu schaffen gemacht, hat diese von unten aufgeschnitten, dann die Naht meiner inneren Brusttasche gelöst und daraus mein I-Phone, meine Geldtasche und meine Handy vor Ort entwendet. Unfassbar, dass ich es nicht gemerkt habe. Die eigene Naivität macht mich unglaublich wütend. Nachts liege im Bett und spiel die Szenen im Kopf immer wieder durch. Zweimal ist meine Hand zur Brusttasche hingegangen, beide mal hat der Kassierer es geschafft, mich abzulenken.
Ich habe es nicht mal geblickt, als er plötzlich meinte, die Route wäre geändert, und ich müsste jetzt aussteigen. Ganz hektisch, ich war komplett überrumpelt. Als ich dann draußen war, ist der Bus losgedüst, und dann hat mein Gehirn wieder angefangen zu arbeiten... leider zu spät.

Man sollte meinen, ich hätte gelernt. Am Sonntag war der Great Ethiopian Run, über den ich eigentlich vorhatte zu schreiben. Ein großer Stadtlauf mit 35.000 Teilnehmern, eine tolle Veranstaltung, fantastische Stimmung - und leider vielen Taschendieben. Während dem gesamten Lauf hatte ich meine Fotokamera in der Hand, das Band um Gelenk geknotet. Und nach dem Zieleinlauf dann wieder die große Dummheit. Für etwa zwei Minuten mach ich die Kamera in die Hosentasche, prompt ist sie weg, ohne dass ich was mitbekommen habe. Gedanken einen Moment woanders, schon sind flinke Finger da und entwenden sie. Gerade die Kamera trifft mich am meisten. Ich habe noch den ganz zarten Hauch einer Hoffnung, dass ich sie wiederbekomme, denn wir haben den Komplizen des Diebes, der meine Kamera mitgenommen hat, erwischt, als er sich an der Hosentasche einer Freundin zu schaffen machte. Sahlu, ein äthiopischer Freund, hat ihn dabei entdeckt und sofort laut geschrieen und ihn angegriffen. Wir haben ihn zur Polizei geschleppt und Anzeige erstattet. Die Polizei hier ist ziemlich grob, der Dieb hat erstmal eine Reihe Schläge kassieren müssen. Ich will gar nicht wissen, was sie hinter den Kulissen machen.
Vielleicht habe ich Glück, und ich bekomme das Gerät zurück. Wirklich daran glauben kann ich derzeit nicht. Solche Erlebnisse ziehen einen runter, aber meine Freunde hier haben mir wirklich Trost gespendet, das macht es leichter. Dennoch, ab und zu fange ich innerlich an zu kochen, mehr wegen meiner eigenen Naivität, aber auch weil ich meine Sachen echt vermisse.
Aber... ich bin gesund, ich habe meinen Pass noch und solange es dabei bleibt, muss ich mich damit einfach abfinden und hoffen, wieder ein Stück weiser zu sein...

Mittwoch, 17. November 2010

Wenn der Berg ruft....


Jetzt nutze ich die kurze Gunst der Stunde, um ein paar Zeilen zu hinterlassen. Es ist nämlich keineswegs so, dass ich hier nicht wüsste, was mit meiner Zeit anzufangen wäre. Tagsüber wird gearbeitet, abends stehen andere Aktivitäten an, so dass kaum Zeit zum Schreiben bleibt.

Die letzten zwei Wochenenden standen ganz im Zeichen der Mogli! Mogli, das ist ein Gipfel des Wuchacha-Berges, nicht allzu weit weg von Addis Abeba, und ragt 3.400 Meter in die Höhe. Mit anderen Worten... war'n Dreitausender, nä?

Öffentlich Reisen ist in Äthiopien, speziell mit mangelnden Sprachkenntnissen, immer eine kleine Herausforderung. Deswegen haben wir es auch das vorige Wochenende nicht hinbekommen, dorthin zu kommen. Das erste mal sind wir in einer falschen Stadt gelandet und haben einen anderen Hügel bestiegen, das zweite Mal sind wir im anliegenden Meta-Beer-Park (eine Brauerei mit Gaststätte und kleinen (!) Attraktionen versackt.

Letztes Wochenende haben wir es dann aber doch geschafft und es war einer der großartigsten Tage überhaupt. Der Ausblick vom Gipfel war überragend und ich werde immer noch melancholisch, wenn ich mir die Bilder ansehe. Nach etwa 4 Stunden hatten wir die Mogli bezwungen, und ich lege Wert auf die Weiblichkeit dieses Gipfels, denn Mogli ist für die umlebenden Farmer auch eine Göttin. Das ist ein interessantes Beispiel dafür, wie sich, gerade in den ländlichen Regionen, Christentum und alter Naturglaube noch immer vermischen. Die Bauern, obwohl Orthodoxe Christen, bringen dem Gipfel Opfergaben, um auf Nummer sicher zu gehen.
Fantastisch waren auch die kleinen Bauernhöfe, die aus Strohhütten bestehen und mit kleinen Palisaden umzäunt sind. Eindrücke wie aus einer anderen Zeit...

Einer der Bauern war so nett, uns beim Abstieg eine Abkürzung in den Bierpark zu zeigen. Dass der Weg für Kletterunerfahrene in Turnschuhen etwas halsbrecherisch ist, hat er uns nicht gesagt. Das größere Problem bereiteten uns allerdings die Guards, die uns dabei entdeckt hatten und zunächst wenig zimperlich, verständnislos und unkooperativ zeigten (O-Ton: "Hätten wir ein Gewehr, würden wir euch jetzt erschießen!").

Das wohlverdiente Bier haben wir dann doch noch bekommen. Und wurden Zeugen dessen, was passiert, wenn Gruppen betrunkener Jugendliche aneinander geraten: Eine Massenschlägerei mit, ich würde schätzen, 30 Beteiligten, die sich gegenseitig mit Fäusten traktierten.

Überhaupt war dieser Tag, so grandios er war, leider auch meine Premiere an wirklich schlechten Erfahrungen mit Äthiopiern. Die Busfahrt zurück nach Addis Abeba verbrachten wir, zwar nicht ausschließlich, aber überwiegend, mit einer Horde Saufnasen. Und deren Verhalten ist unabhängig von Nation und Herkunft - sie pöbeln, sie belästigen, sie beleidigen. Speziell unsere äthiopische Freundin war massiven Schmähungen ausgesetzt. Übrigens nicht ungewöhnlich: Erst wenige Tage vorher hatte mir eine andere Freundin erzählt, dass sie regelmäßig beschimpft wird, wenn sie mit Weißen unterwegs ist. Ich selbst hatte bisher noch keine Erfahrungen dieser Art gemacht, aber vielleicht ist das manchmal die Gnade der mangelnden Sprachkenntnisse. Wie dem auch sei: Idioten und Rassisten gibt es hüben wie drüben. Die riesige Zahl der positiven Erfahrungen mit Äthiopiern lässt solche Momente nichtig und belanglos erscheinen.

Letzte Woche hatte ich meine ersten, richtigen Magenprobleme - vier Tage lang Krämpfe, dann wars aber auch wieder gut. Semsema-gestählte Därme eben...

Mehr zu schaffen macht mir mein Knie. Meine Einsatzbereitschaft beim gestrigen Volleyball hat ihren Preis, einmal blöd auf dem Knie landen, schon tuts weh. Tja, man ist halt keine 25 mehr... heute werde ich auf, natürlich höchstbeeindruckende, Rettungsaktionen verzichten. Schließlich muss mein Knie bis spätestestens Sonntag wieder voll intakt sein. Dann ist nämlich der "Great Ethiopian Run", ein Stadtlauf in Addis und vielleicht das Event des Jahres hier. Auf einer Strecke von 10 km läuft jeder, der ein Ticket bekommen konnte durch die Stadt. Die Läuferschaft ist gespalten - manch einer versucht, gute Zeiten zu erzielen, andere nutzen das ganze mehr als Spaßveranstaltung. Für diese ist es üblich, zwischendurch einen Kaffee zu trinken, sich zu sonnen und die Strecke eher zu spazieren. Ich bin noch unschlüssig - Würd den Lauf ja gerne gewinnen, aber meine Chancen stehen etwas ungünstig (liegt allein der ungewohnten Höhenluft). Es könnte daher auf Kaffeesonnenspaziergang hinauslaufen.

Soweit von mir! Ich hoffe, Euch geht es gut!!!

Liebe Grüße,
Armin


Mittwoch, 3. November 2010

Ein paar Eindrücke

18:30, vor einer halben Stunde bin ich von der Arbeit heimgekommen. Ich wasche mein Geschirr vom Vorabend ab und überlege dabei, ob ich heute Abend kochen soll. Mein Blick wandert zu dem kleinen Gaskocher, zu den China-Nudelsuppen im Schrank und dann zum frisch abgespülten Topf, und ich entscheide mich, zu Lucy essen zu gehen.

Lucy ist ein Restaurant, direkt neben dem Nationalmuseum, benannt nach dem bekannten Fossil, und liegt nur einen kurzen Gehweg von vielleicht fünf Minuten von meinem Zuhause entfernt. Als Stammlokal würde ich es nicht bezeichnen, aber ich gehe dort gerne essen. Gerade traditionelle Gerichte wie Shiro bereiten sie gut zu und es ist nicht teuer. Manchen ist das Restaurant zu touristisch, aber ich mag die entspannte Atmosphäre im Garten dort, auch wenn ich das ständige Abtasten am Eingang nicht leiden mag.

Ich ziehe mir einen Kapuzenpulli über das T-Shirt, darüber noch mal eine Lederjacke, denn es dämmert bereits, und wenn die Sonne erst mal weg ist, kühlt es in Addis Abeba erstaunlich schnell ab. Es ist zudem recht windig, und ein Schnupfen gehört für die meisten Ausländer zum guten Ton. Meine Mandelentzündung ist zum Glück Vergangenheit, und das soll so bleiben. Trotzdem lasse ich den Schal daheim, immerhin gehen die Temperaturen jetzt allmählich hoch. November und Dezember sollen deutlich wärmer werden als der Oktober, erklärte mir eine einheimische Kollegin.

Ich verlasse unser Haus durch das massive Tor. Wie die meisten der Einfamilienhäuser hier ist auch unseres mit hohen Mauern umgeben, auf denen gefährlich blinkender Stacheldraht noch mal einen halben Meter in die Höhe ausgerollt ist.

Ich gehe den steinigen Weg, der vom Haus zu den nächsten Straßen führt, weiter. Eine Gruppe junger Männer steht scherzend am Rand. Einen davon kenne ich, aber ich habe seinen Namen vergessen. Es sind ständig neue Namen, die wenigsten habe ich davor schon mal gehört. Ich weiß, dass er Grundschullehrer ist.

Wir begrüßen uns äthiopisch, und ich freue mich jedes Mal auf diesen Gruß. Ich versuche, ihn so oft wie möglich anzuwenden. Man reicht sich die rechte Hand, dann beugt man sich vor und drückt sanft die rechte Schultern zusammen. Wenn man ganz lustig ist, kann man auch mal mit der linken Hand dem Gegenüber auf den Rücken klopfen. Ich mag diesen Gruß einfach, tatsächlich überlege ich seit einer Weile, wie ich ihn bei meinem Freunden in Deutschland subtil einführen kann.

Es folgen die üblichen Floskeln.

„Salamnu?“

„Salamnu!“

„Denha?“

„Denha!“

„Salamnu!“

„Salamnu!“
„Hulu Salam?“

„Hulu Salam!“

Ich habe mal gehört, dass Frauen 5000 Wörter mehr als Männer pro Tag benötigen. Das gleiche gilt, wie es mir scheint, auch für Äthiopier, und das allein wegen den ausgiebigen Begrüßungen. Ansonsten schätze ich das ruhige, nicht zu quasselige Temperament der Leute hier.

Nach etwa hundert Metern endet der Weg und ich komme auf eine Straße. Morgens, auf dem Weg zum Goethe Institut, biege ich nach rechts ab, von dort gelange ich auf eine große Straße namens Russia Street. Straßennamen sind hier allerdings Schall und Rauch.

Ich will nicht zur Arbeit, deswegen biege ich nach links ab.

Die Straße, die ich jetzt entlang gehe, ist keine von den großzügigen Boulevards, die sich durch Addis ziehen, sondern wirkt eher wie eine etwas breitere Gasse. Zwei Autos könnten problemlos nebeneinander fahren, wären da nicht die ganzen Menschen. Zwar gibt es Bürgersteige, aber auf diesen zu gehen ist unangenehm. Ich weiß gar nicht, wie ich sie beschreiben soll, es ist kein Schotter, aber auch nicht gepflastert, betoniert, aber mehr wie ein Hindernisparcour gestaltet. Spitze Steine und scharfe Kanten ragen raus, nicht vereinzelt, sondern als Grundprinzip des Gehsteigs - und Schuhe leiden darunter. Zum Glück sind die Schuhmacher hier günstig, ich lasse meine Treter neu besohlen, für umgerechnet zwei Euro.

Mittlerweile ist es beinahe dunkel, links von mir brennt ein Lagerfeuer vor einem PKW mit offener Motorhaube. Ein Mann hält etwas in das Feuer, ich glaube eine Zündkerze.

Ein paar Meter weiter stehen bereits die ersten Geschäfte, sie sind hell erleuchtet. Es sind kleine Hütten, manche davon nur vier Quadratmeter groß. Sie sind aus Wellblech zusammengeschustert, wenige davon bestehen tatsächlich aus Stein und Ziegeln. Dahinter findet sich alles mögliche, die Gasse, so unscheinbar sie zunächst scheint, ist sehr belebt. Mehrere Metzgereien befinden sich darin, kleine Stände, in denen ein einzelner, mit Messern bewaffneter Mann hinter der Theke steht. In der Regel hängt eine enthäutete, tote Ziege hinter den Fleischern. Sie schneiden Fleischstücke auf Wunsch raus. Ein Fleischwolf steht daneben, aus vielmehr scheint das Geschäft nicht zu bestehen. Andere Stände verkaufen Backwaren, welche sie in der Früh geliefert bekommen. Sehr beliebt hier ist das Bonbolino, eine Art Donut, aber nicht glasiert, sondern einfach nur unglaublich fettiger und frittierter Teig.

In einer halboffenen Hütte stehen zwei Fernseher. An jeden ist eine Spielekonsole angeschlossen, sonst ist gerade noch Platz für die Stühle davor. Gleich daneben ist ein Copyshop, bestehend aus einem Computer, Kopierer, Faxgerät und kaufbaren Büromaterial. Vielleicht acht Quadratmeter groß, wobei der Kopierer etwas auf die Straße hinausragt. Auf der anderen Seite liegt eine Kneipe, aus der tönt ein äthiopischer, sehr eingängiger Superhit, den ich in letzter Zeit öfter gehört habe. Gehe ich ein paar Meter weiter, an den mit einem platten Fußball spielenden Kindern vorbei, passiere ich einen kleinen CD-Laden, aus dem Haddaways „What is love?“ schallt. Daneben steht ein Optiker, dann kommt ein Barbiergeschäft, das aus Stuhl, Spiegel, unangenehmen weißen Licht und Barbier besteht, dann eine Hütte, die Tourismus-Artikel anbietet. Nachts werden diese Hütten mit Balken verschlossen oder Blechtore werden runter gezogen und im Boden verankert.

Dazwischen drinnen befinden sich immer wieder etwas größere Obstläden. Im Angebot befinden sich derzeit fast ausschließlich Bananen, Ananas, Papayas und Avocados, außerdem Zwiebeln und Tomaten. In der Regel führen die Geschäfte außerdem Getränke und ein paar andere Lebensmittel wie Thunfisch in der Dose oder Kekse.

Mir kommt es vor, als schlendern die meisten Leute eher durch die Gasse. Ich habe Hunger, deswegen ziehe ich eilig an den meisten vorbei. Ich habe allgemein das Gefühl, dass ich um einiges schneller gehe, als es hier üblich ist. Es wird viel gelacht, ein Junge spielt, indem er ein Rad mit einem Stock vor sich her treibt. Ein Blinder wird von einem anderen Passanten nach hinten gezogen, als ein Auto, ein alter VW Käfer, viel zu schnell durch die Gasse rauscht. Einige Meter weiter muss die Karre komplett anhalten, weil eine Herde Ziegen einen Teil der Straße blockiert. Eine einzelne Ziege wird von zwei mir entgegenkommenden Männern vermutlich zu einem Schlachter gebracht. Jeder von ihnen hält eines der Vorderbeine fest, so dass die Ziege sich wehrend und strampelnd beinahe aufrecht zwischen beiden marschieren muss. Passanten treffen sich beiläufig auf der Straße, Männer und Frauen, sie geben sich die Hände, drücken die Schultern aneinander. „Salamnu?“- „Salamnu!“

Vor den Geschäften und Kneipen sitzen junge Männer, ganz wenige rauchen. Rauchen ist hier sehr unüblich und unfein, vor allem in der Öffentlichkeit. Einer ruft mir hinterher: „Hey, you, hey, Ferengi!“ Ich reagiere nicht mehr darauf. Es stört mich nicht, angesprochen zu werden, viele grüßen mich sehr freundlich, aber dieses Hinterhergerufe, gerade so lange hinausgezögert, bis ich den Rücken zugekehrt habe, geht mir auf den Keks.

Einige Kinder laufen johlend an mir vorbei, eines davon bleibt bei meinem Anblick abrupt stehen, setzt ein trauriges Gesicht auf und hält wie im Reflex die rechte Hand auf. „One Birr! Money, Money!“ Das Kind ist kein Bettelkind, es folgt nur dem Gedanken, demnach alle Ferengis aus Geldscheinen bestehen und man nur daran ziehen muss, um etwas zu bekommen. Es ist eine Selbstverständlichkeit dabei, vielleicht auch etwas Lausbubenhaftes, das weiß ich nicht. Ich lächle es an, sage „Yelem“, es gibt nichts, und gehe weiter. Es ist nicht ungewöhnlich, dass auch Kinder, deren Eltern einer ganz normalen Arbeit nachgehen, nach Geld fragen. Tatsächliche Straßenkinder lassen sich nicht so leicht abschütteln, hängen sich auch an die Jacke. In bestimmten Gegenden laufen sie einem zehn Minuten hinterher.

Die Gasse mündet in eine große Straße, dicht befahren, denn sie liegt genau zwischen zwei Bushaltestellen, dem Arat Kilo und dem Siddist Kilo. Das Bild ändert sich schlagartig, die Gebäude sind zwar nicht hoch, aber manche davon doch dreistöckig. Büros, Banken, Supermärkte, Restaurants und Cafés finden darin. Zu dem Lärm der Menschen fügen sich die Motorengeräusche, aus den Minibussen schreien junge Männer die nächste Station. Die Gehsteige sind hier etwas ebener, reihenweise Bettler und Obdachlose schlafen darauf. Zwischen drinnen sitzt eine Frau, auf einer Decke hat sie verschiedene Kleinigkeiten zum Verkauf im Angebot, Haarreifen, Kaugummis, Unterhosen. Ein Junge läuft mit einem Bauchkasten herum, will mir Zigaretten verkaufen, ein anderer möchte mir eine SIM-Karte andrehen.

Auf der anderen Seite ist eine große, orthodoxe Kirche, ich höre eine Stimme aus Lautsprechern predigen. Einige Äthiopier bekreuzigen sich beim Vorbeigehen, auch viele Autofahrer machen dies, sobald sie eine Kirche passieren.

Ich gehe rechts die Straße hoch, Richtung Nationalmuseum. Ein junger Mann steht am Straßenrand neben einer Waage, für ein paar Birr kann man sich dort wiegen. Um auf sich aufmerksam zu machen, hat er eine kleine Sirene danebengelegt, die wahrscheinlich von einem Spielzeug stammt. Das ist übrigens ein typischer Anblick, die Waage an der Straße, und daneben irgendein Gerät, das ordentlich Lärm macht, eine Fahrradklingel, eine Tröte, ein dauerklingelnder Wecker.

Direkt neben dem Museum ist das Restaurant, während ich darauf zusteuere, steht der Wächter auf. Ich strecke die Arme aus, er lacht freundlich und weist auf den Eingang. Heute keine Durchsuchung…

Liebe Grüße,
Armin