18:30, vor einer halben Stunde bin ich von der Arbeit heimgekommen. Ich wasche mein Geschirr vom Vorabend ab und überlege dabei, ob ich heute Abend kochen soll. Mein Blick wandert zu dem kleinen Gaskocher, zu den China-Nudelsuppen im Schrank und dann zum frisch abgespülten Topf, und ich entscheide mich, zu Lucy essen zu gehen.
Lucy ist ein Restaurant, direkt neben dem Nationalmuseum, benannt nach dem bekannten Fossil, und liegt nur einen kurzen Gehweg von vielleicht fünf Minuten von meinem Zuhause entfernt. Als Stammlokal würde ich es nicht bezeichnen, aber ich gehe dort gerne essen. Gerade traditionelle Gerichte wie Shiro bereiten sie gut zu und es ist nicht teuer. Manchen ist das Restaurant zu touristisch, aber ich mag die entspannte Atmosphäre im Garten dort, auch wenn ich das ständige Abtasten am Eingang nicht leiden mag.
Ich ziehe mir einen Kapuzenpulli über das T-Shirt, darüber noch mal eine Lederjacke, denn es dämmert bereits, und wenn die Sonne erst mal weg ist, kühlt es in Addis Abeba erstaunlich schnell ab. Es ist zudem recht windig, und ein Schnupfen gehört für die meisten Ausländer zum guten Ton. Meine Mandelentzündung ist zum Glück Vergangenheit, und das soll so bleiben. Trotzdem lasse ich den Schal daheim, immerhin gehen die Temperaturen jetzt allmählich hoch. November und Dezember sollen deutlich wärmer werden als der Oktober, erklärte mir eine einheimische Kollegin.
Ich verlasse unser Haus durch das massive Tor. Wie die meisten der Einfamilienhäuser hier ist auch unseres mit hohen Mauern umgeben, auf denen gefährlich blinkender Stacheldraht noch mal einen halben Meter in die Höhe ausgerollt ist.
Ich gehe den steinigen Weg, der vom Haus zu den nächsten Straßen führt, weiter. Eine Gruppe junger Männer steht scherzend am Rand. Einen davon kenne ich, aber ich habe seinen Namen vergessen. Es sind ständig neue Namen, die wenigsten habe ich davor schon mal gehört. Ich weiß, dass er Grundschullehrer ist.
Wir begrüßen uns äthiopisch, und ich freue mich jedes Mal auf diesen Gruß. Ich versuche, ihn so oft wie möglich anzuwenden. Man reicht sich die rechte Hand, dann beugt man sich vor und drückt sanft die rechte Schultern zusammen. Wenn man ganz lustig ist, kann man auch mal mit der linken Hand dem Gegenüber auf den Rücken klopfen. Ich mag diesen Gruß einfach, tatsächlich überlege ich seit einer Weile, wie ich ihn bei meinem Freunden in Deutschland subtil einführen kann.
Es folgen die üblichen Floskeln.
„Salamnu?“
„Salamnu!“
„Denha?“
„Denha!“
„Salamnu!“
„Salamnu!“
„Hulu Salam?“
„Hulu Salam!“
Ich habe mal gehört, dass Frauen 5000 Wörter mehr als Männer pro Tag benötigen. Das gleiche gilt, wie es mir scheint, auch für Äthiopier, und das allein wegen den ausgiebigen Begrüßungen. Ansonsten schätze ich das ruhige, nicht zu quasselige Temperament der Leute hier.
Nach etwa hundert Metern endet der Weg und ich komme auf eine Straße. Morgens, auf dem Weg zum Goethe Institut, biege ich nach rechts ab, von dort gelange ich auf eine große Straße namens Russia Street. Straßennamen sind hier allerdings Schall und Rauch.
Ich will nicht zur Arbeit, deswegen biege ich nach links ab.
Die Straße, die ich jetzt entlang gehe, ist keine von den großzügigen Boulevards, die sich durch Addis ziehen, sondern wirkt eher wie eine etwas breitere Gasse. Zwei Autos könnten problemlos nebeneinander fahren, wären da nicht die ganzen Menschen. Zwar gibt es Bürgersteige, aber auf diesen zu gehen ist unangenehm. Ich weiß gar nicht, wie ich sie beschreiben soll, es ist kein Schotter, aber auch nicht gepflastert, betoniert, aber mehr wie ein Hindernisparcour gestaltet. Spitze Steine und scharfe Kanten ragen raus, nicht vereinzelt, sondern als Grundprinzip des Gehsteigs - und Schuhe leiden darunter. Zum Glück sind die Schuhmacher hier günstig, ich lasse meine Treter neu besohlen, für umgerechnet zwei Euro.
Mittlerweile ist es beinahe dunkel, links von mir brennt ein Lagerfeuer vor einem PKW mit offener Motorhaube. Ein Mann hält etwas in das Feuer, ich glaube eine Zündkerze.
Ein paar Meter weiter stehen bereits die ersten Geschäfte, sie sind hell erleuchtet. Es sind kleine Hütten, manche davon nur vier Quadratmeter groß. Sie sind aus Wellblech zusammengeschustert, wenige davon bestehen tatsächlich aus Stein und Ziegeln. Dahinter findet sich alles mögliche, die Gasse, so unscheinbar sie zunächst scheint, ist sehr belebt. Mehrere Metzgereien befinden sich darin, kleine Stände, in denen ein einzelner, mit Messern bewaffneter Mann hinter der Theke steht. In der Regel hängt eine enthäutete, tote Ziege hinter den Fleischern. Sie schneiden Fleischstücke auf Wunsch raus. Ein Fleischwolf steht daneben, aus vielmehr scheint das Geschäft nicht zu bestehen. Andere Stände verkaufen Backwaren, welche sie in der Früh geliefert bekommen. Sehr beliebt hier ist das Bonbolino, eine Art Donut, aber nicht glasiert, sondern einfach nur unglaublich fettiger und frittierter Teig.
In einer halboffenen Hütte stehen zwei Fernseher. An jeden ist eine Spielekonsole angeschlossen, sonst ist gerade noch Platz für die Stühle davor. Gleich daneben ist ein Copyshop, bestehend aus einem Computer, Kopierer, Faxgerät und kaufbaren Büromaterial. Vielleicht acht Quadratmeter groß, wobei der Kopierer etwas auf die Straße hinausragt. Auf der anderen Seite liegt eine Kneipe, aus der tönt ein äthiopischer, sehr eingängiger Superhit, den ich in letzter Zeit öfter gehört habe. Gehe ich ein paar Meter weiter, an den mit einem platten Fußball spielenden Kindern vorbei, passiere ich einen kleinen CD-Laden, aus dem Haddaways „What is love?“ schallt. Daneben steht ein Optiker, dann kommt ein Barbiergeschäft, das aus Stuhl, Spiegel, unangenehmen weißen Licht und Barbier besteht, dann eine Hütte, die Tourismus-Artikel anbietet. Nachts werden diese Hütten mit Balken verschlossen oder Blechtore werden runter gezogen und im Boden verankert.
Dazwischen drinnen befinden sich immer wieder etwas größere Obstläden. Im Angebot befinden sich derzeit fast ausschließlich Bananen, Ananas, Papayas und Avocados, außerdem Zwiebeln und Tomaten. In der Regel führen die Geschäfte außerdem Getränke und ein paar andere Lebensmittel wie Thunfisch in der Dose oder Kekse.
Mir kommt es vor, als schlendern die meisten Leute eher durch die Gasse. Ich habe Hunger, deswegen ziehe ich eilig an den meisten vorbei. Ich habe allgemein das Gefühl, dass ich um einiges schneller gehe, als es hier üblich ist. Es wird viel gelacht, ein Junge spielt, indem er ein Rad mit einem Stock vor sich her treibt. Ein Blinder wird von einem anderen Passanten nach hinten gezogen, als ein Auto, ein alter VW Käfer, viel zu schnell durch die Gasse rauscht. Einige Meter weiter muss die Karre komplett anhalten, weil eine Herde Ziegen einen Teil der Straße blockiert. Eine einzelne Ziege wird von zwei mir entgegenkommenden Männern vermutlich zu einem Schlachter gebracht. Jeder von ihnen hält eines der Vorderbeine fest, so dass die Ziege sich wehrend und strampelnd beinahe aufrecht zwischen beiden marschieren muss. Passanten treffen sich beiläufig auf der Straße, Männer und Frauen, sie geben sich die Hände, drücken die Schultern aneinander. „Salamnu?“- „Salamnu!“
Vor den Geschäften und Kneipen sitzen junge Männer, ganz wenige rauchen. Rauchen ist hier sehr unüblich und unfein, vor allem in der Öffentlichkeit. Einer ruft mir hinterher: „Hey, you, hey, Ferengi!“ Ich reagiere nicht mehr darauf. Es stört mich nicht, angesprochen zu werden, viele grüßen mich sehr freundlich, aber dieses Hinterhergerufe, gerade so lange hinausgezögert, bis ich den Rücken zugekehrt habe, geht mir auf den Keks.
Einige Kinder laufen johlend an mir vorbei, eines davon bleibt bei meinem Anblick abrupt stehen, setzt ein trauriges Gesicht auf und hält wie im Reflex die rechte Hand auf. „One Birr! Money, Money!“ Das Kind ist kein Bettelkind, es folgt nur dem Gedanken, demnach alle Ferengis aus Geldscheinen bestehen und man nur daran ziehen muss, um etwas zu bekommen. Es ist eine Selbstverständlichkeit dabei, vielleicht auch etwas Lausbubenhaftes, das weiß ich nicht. Ich lächle es an, sage „Yelem“, es gibt nichts, und gehe weiter. Es ist nicht ungewöhnlich, dass auch Kinder, deren Eltern einer ganz normalen Arbeit nachgehen, nach Geld fragen. Tatsächliche Straßenkinder lassen sich nicht so leicht abschütteln, hängen sich auch an die Jacke. In bestimmten Gegenden laufen sie einem zehn Minuten hinterher.
Die Gasse mündet in eine große Straße, dicht befahren, denn sie liegt genau zwischen zwei Bushaltestellen, dem Arat Kilo und dem Siddist Kilo. Das Bild ändert sich schlagartig, die Gebäude sind zwar nicht hoch, aber manche davon doch dreistöckig. Büros, Banken, Supermärkte, Restaurants und Cafés finden darin. Zu dem Lärm der Menschen fügen sich die Motorengeräusche, aus den Minibussen schreien junge Männer die nächste Station. Die Gehsteige sind hier etwas ebener, reihenweise Bettler und Obdachlose schlafen darauf. Zwischen drinnen sitzt eine Frau, auf einer Decke hat sie verschiedene Kleinigkeiten zum Verkauf im Angebot, Haarreifen, Kaugummis, Unterhosen. Ein Junge läuft mit einem Bauchkasten herum, will mir Zigaretten verkaufen, ein anderer möchte mir eine SIM-Karte andrehen.
Auf der anderen Seite ist eine große, orthodoxe Kirche, ich höre eine Stimme aus Lautsprechern predigen. Einige Äthiopier bekreuzigen sich beim Vorbeigehen, auch viele Autofahrer machen dies, sobald sie eine Kirche passieren.
Ich gehe rechts die Straße hoch, Richtung Nationalmuseum. Ein junger Mann steht am Straßenrand neben einer Waage, für ein paar Birr kann man sich dort wiegen. Um auf sich aufmerksam zu machen, hat er eine kleine Sirene danebengelegt, die wahrscheinlich von einem Spielzeug stammt. Das ist übrigens ein typischer Anblick, die Waage an der Straße, und daneben irgendein Gerät, das ordentlich Lärm macht, eine Fahrradklingel, eine Tröte, ein dauerklingelnder Wecker.
Direkt neben dem Museum ist das Restaurant, während ich darauf zusteuere, steht der Wächter auf. Ich strecke die Arme aus, er lacht freundlich und weist auf den Eingang. Heute keine Durchsuchung…
Liebe Grüße,
Armin
Schön. Ehrlich. Könnte aus einem Roman stammen. Lass noch die Satzzeichen weg, dann nenn ich dich in Zukunft James Joyce...
AntwortenLöschenJa, seeeehr schön!!!
AntwortenLöschenvielen Dank für das Kompliment! :)
AntwortenLöschenSehr schoenes Stimmungsbild; fast ist man dabeigewesen:-) Viel Glueck weiterhin!
AntwortenLöschenHallo????
AntwortenLöschenIst das hier ein TAGEbuch oder ein MONATSbuch?
Ich warte auf den nächsten Eintrag!